Kinderschutzschulungen in Südafrika – Interview mit zwei Trainerinnen
Sue Philpott setzt sich seit Jahren bei Behörden und lokalen Regierungen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein. Gemeinsam vereinen die beiden Theorie und Praxis und sind damit das ideale Team für die Workshops „Schutzmaßnahmen für Kinder mit Behinderungen“.
Text: Katharina Nickoleit, Fotos: Christian Nusch
Die beiden Südafrikanerinnen Bongi Zuma und Sue Philpott haben im Auftrag der Kindernothilfe gemeinsam zwei Workshops zum Thema „Schutzmaßnahmen für Kinder mit Behinderungen“ durchgeführt. Teilgenommen haben Mitarbeitende von elf verschiedenen Partnerorganisationen der Kindernothilfe in Südafrika und Eswatini. Die Journalistin Katharina Nickoleit hat mit ihnen gesprochen.
Warum brauchen Mitarbeitende von Kinderrechteorganisationen einen solchen Workshop?
Sue Philpott: Die meisten NGOs haben nie darüber nachgedacht, dass in den Gemeinden, in denen sie arbeiten, zehn bis 15 Prozent der Kinder auf die eine oder andere Weise behindert sind. Diese Kinder müssen in der täglichen Arbeit der Organisationen berücksichtigt werden. Zu sagen: „Du kannst dieses oder das nicht, also kannst du nicht mitmachen“ oder: „Uns fehlen Kenntnisse, um uns richtig um dich zu kümmern, also tun wir es nicht“, ist eine Form von Misshandlung. Dabei brauchen gerade diese Kinder unsere besondere Aufmerksamkeit, weil sie ohnehin benachteiligt sind.
Wie verbreitet ist die Benachteiligung von Kindern mit Behinderungen?
Bongi Zuma: In Südafrika ist die Diskriminierung von Behinderten besonders stark ausgeprägt. Es hat vor allem damit zu tun, dass die südafrikanische Gesellschaft tief gespalten ist. Nirgendwo sonst auf der Welt ist die Kluft zwischen Armen und Reichen so groß wie hier. Das sorgt für eine Menge Frust, der an den Schwächsten der Gesellschaft ausgelassen wird. Und behinderte Kinder sind die Allerschwächsten.
Wie kann es sein, dass das von der Gesellschaft geduldet wird?
Sue Philpott: In vielen Gemeinden gibt es den unausgesprochenen Konsens, dass Menschen mit Behinderungen weniger wert sind, womöglich nicht die gleichen Gefühle oder Bedürfnisse haben wie andere. Das sorgt für eine Atmosphäre, in der es ok ist, sie zu beleidigen und zu beschimpfen. Und in dieser Atmosphäre wird auch Gewalt als weniger schlimm, womöglich sogar als akzeptabel eingestuft werden. Dadurch fühlen sich die Täterinnen und Täter sicher.
Kinder mit Behinderungen sind viel stärker von Misshandlungen betroffen
Wurden Kinder mit Behinderung von Kinderrechteorganisationen bislang einfach nicht gesehen?
Sue Philpott: Die Versorgung dieser Kinder findet meistens wie in einem Paralleluniversum statt. Der Ansatz der Kindernothilfe ist, sie nicht separat zu sehen, sondern einfach als Kinder, die auf eine besondere Weise verletzlich sind. Wenn man beispielsweise das Thema Misshandlung betrachtet, so sind Kinder mit Behinderung vier- bis fünfmal stärker davon betroffen. Deshalb müssen NGOs, die mit Kindern arbeiten, ein spezielles Augenmerk auf sie haben. Nicht, weil sie behindert, sondern weil sie besonders gefährdet sind.
Wie sind Sie didaktisch bei den Workshops vorgegangen?
Sue Philpott: Es ist natürlich richtig und wichtig, sich mit der Kinderrechtskonvention zu beschäftigen. Aber das ist sehr theoretisch. Viel direkter ist es, die betroffenen Kinder selber zu Wort kommen zu lassen. Genau darum geht es ja. Wir haben deshalb immer wieder Kinder zitiert, die persönlich von ihren Schwierigkeiten im Alltag erzählten.
Was sind das für Probleme?
Bongi Zuma: Zum Beispiel, dass Fremde bei ihnen im Haus eindringen, wenn sie alleine sind, sie beschimpfen und misshandeln. Dass Schulbusfahrer sie beleidigen und die Mädchen unangemessen anfassen. Aber sie werden auch von ihren Familien zu Hause versteckt und dürfen nie raus. Entweder, weil sich die Eltern schämen, oder aber, weil sie übervorsichtig sind. Das grundlegende Problem hinter all dem ist, dass niemand diesen Kindern zuhört, wenn sie solche Dinge berichten.
Wie haben die Organisationen auf diese Erkenntnis reagiert?
Bongi Zuma: Manche fühlten sich überfordert. Es gab durch Corona ohnehin viele Probleme und sich dann auch noch um die speziellen Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen kümmern zu sollen, war ihnen einfach zu viel. Andere sprühten geradezu vor Ideen, wie man die Mädchen und Jungen besser schützen könnte. Eine war, regelmäßig Zeit und Raum für Treffen mit betroffenen Kindern zu schaffen, in denen sie offen über ihre Probleme und Bedürfnisse sprechen können. Eine Teilnehmerin sagte: „Wenn wir als Institution, die mit gefährdeten Kindern arbeiten, Kinder mit Behinderung nicht integrieren, machen wir uns der Vernachlässigung schuldig.
Sue Philpott: Das war für alle ein Aha-Moment. Davon gab es viele, vor allem dann, wenn Bongi von ihren persönlichen Erfahrungen erzählte. Denn die machten deutlich, dass nicht die Behinderung das Problem ist, sondern wie die Gesellschaft damit umgeht.
Bongi, können Sie ein Beispiel dafür geben?
Bongi Zuma: Eine Geschichte kam aus der Schule. Ich war sehr gut in Mathe. Meine Lehrerin sagte vor der gesamten Klasse: „Ein Kind, das hinkt, kann nicht so gut sein. Sie hat bestimmt geschummelt.“ Das führte dazu, dass meine Klassenkameraden mich beschimpften. Solche persönlichen Geschichten machten den Teilnehmenden deutlich, wie schlimm allein Alltagsdiskriminierung für ein Kind ist.
Die Workshops sind ein erster wichtiger Schritt der Kindernothilfe
Bungi Zuma: Die Evaluierung steht noch aus, aber wir haben schon einzelne Rückmeldungen bekommen. Eine Organisation berichtete, dass sie Kontakt mit dem Bürgermeister aufgenommen hat, um gemeinsam mit ihm zu überlegen, welche Strukturen in der Stadt verändert werden können.
Was muss sich ändern, damit es weniger Diskriminierung und Gewalt gegen Kinder mit Behinderung gibt?
Sue Philpott: Die Grundatmosphäre. Den Leuten muss klarwerden, dass es nicht in Ordnung ist, die Rechte von Menschen mit Behinderung zu ignorieren. Dafür müssen erst einmal die Probleme benannt werden.
Bungi Zuma: Indem die Kindernothilfe ihre Partner dazu verpflichtet hat, diese Workshops zu besuchen, hat sie einen wichtigen ersten Schritt gemacht. Wir hoffen, dass auch andere Organisationen, die mit Kindern arbeiten, Behörden und letztendlich auch alle Schulen, das Thema so offensiv angehen. Nur dann kann sich etwas verändern.
Die Schulungen in Südafrika fanden im Rahmen eines Projekts statt, mit dem wir unsere Partner wie auch andere Organisationen befähigen, ihre Kinderschutzsysteme zu erweitern und effektiver zu machen: in den Bereichen Online-Sicherheit, Kinder mit Behinderungen und gewaltfreie Erziehung. Wir fördern das Projekt gemeinsam mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) von Oktober 2020 bis Dezember 2022 – in neun Ländern Asiens und Afrikas mit 367.563 Euro.
Im Anschluss an die Schulungen setzen die Teilnehmenden das Gelernte in ihren Organisationen, Gemeinden und auf politischer Ebene um. So können junge Menschen in einem kinderfreundlichen Umfeld aufwachsen und sind vor Gewalt geschützt. Wir planen, dieses sehr erfolgreiche Schulungskonzept im nächsten Jahr auch auf Lateinamerika auszuweiten.